5. Rederaum
Menschenrechte aberkennen – geht das?
Gast: Christiane Schneider (Die Linke), vormalige Abgeordnete der Bürgerschaft
Moderation: Helmut Stubbe da Luz, Tanja Trede-Schicker
Dienstag, 12. März 2024
Am 1. Februar 2024 ist einigen Fraktionen des Bundestags eine Petition mit 1,6 Millionen Unterschriften übergeben worden: Dem rechtsextremen AfD-Politiker Björn Höcke sollen bestimmte Grundrechte entzogen werden, da er sein Grundrecht auf Meinungsfreiheit missbraucht habe – zum Kampf gegen die Ordnung des Grundgesetzes. Handhabe bietet Artikel 18 Grundgesetz. Demnach können Grundrechte „verwirkt“ werden.
„Geht das?“ haben wir gefragt – geht das politisch, juristisch? Ist das alltagstauglich? Vor allem: Verträgt sich das mit dem Menschenbild, auf dessen Fundament die Menschenrechte stehen?
Helmut Stubbe da Luz wies in seinem Impulsreferat zunächst auf die UN-Menschenrechtscharta hin und auf den Begriff der Unveräußerlichkeit.
- „Alle Menschen verfügen von Geburt an über die gleichen, unveräußerlichen Rechte und Grundfreiheiten.“ Erster Satz der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Es handelt sich um ein Glaubensbekenntnis und um ein politisches Programm, aber zugleich auch um eine Norm des Völkerrechts.
- „Unveräußerlichkeit“ bedeutet nach überwiegend anerkannter Auslegung zweierlei. Erstens: Kein Mensch wird als berechtigt oder auch nur als in der Lage betrachtet, auf seine Menschenwürde zu verzichten, sie beispielsweise zu verkaufen. Zweitens: Kein Mensch muss sich seine Würde erst einmal verdienen, und keinem Menschen darf diese Würde weggenommen werden.
Gast-Diskutantin Christiane Schneider, langjährig erfahrene Expertin für Innenpolitik, ergänzte unter anderem die folgenden zwei Details: - Nicht alle Grundrecht können in Deutschland „verwirkt“ werden, sondern „nur“ 7 ausdrücklich im GG aufgezählte.
- Die wenigen Anläufe, die das Bundesverfassungsgericht bislang unternommen hat, um eine Grundrechtsverwirkung auszusprechen, sind allesamt im Sande verlaufen, weil die Beweislast – begrüßenswerterweise – bei den Antragstellern liegt (Bundestag, Bundesregierung, Regierungen der Länder).
Auf dieser Informationsgrundlage konnte das Pro und Contra diskutiert werden. Es wurden Versuch angestellt, sich vorzustellen, wie sich wohl ein Mensch verhalten könnte, dem z.B. außer der Meinungs- auch die Versammlungsfreiheit genommen wäre. Gast-Diskutantin Christiane Schneider ergänzte: Wie könnte der Staat reagieren, wenn dieser Mensch demonstrativ auf den entsprechenden Beschluss des Bundesverfassungsgerichts pfiffe?
Grundsätzlicher: Würde ein „Verwirkungs“-Spruch des Bundesverfassungsgerichts nicht den Glauben an die Unveräußerlichkeit der Menschenwürde demonstrativ beschädigen? Muss ein Staat, der sich durch Extremisten attackiert sieht, nicht das Mittel des Strafrechts nutzen, anstatt am zentralen Normenkatalog der Vereinten Nationen zu kratzen? Daraus folgernd: Gehört Artikel 18 überhaupt in unsere Verfassung hinein? Haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes 1949 geirrt? Und unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die AfD: Mangelt es an alternativen Mitteln, die demokratische Grundordnung gegen Extremisten zu verteidigen? Was schließlich würde eine bei Wahlen erfolgreiche und mit Regierungsmacht ausgestattete AfD mit dem Artikel 18 GG anfangen? Kann er nicht gegen oppositionelle Kräfte missbraucht werden?
Helmut Stubbe da Luz